Rezension: Transnationale Möglichkeitsräume
Abstract
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Michael Czolkoß: Transnationale Möglichkeitsräume. Deutsche Diakonissen in London (1846-1918) (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Band 265). Verlag Vandenhoeck & Ruprecht. Göttingen 2022, 458 S., Festeinband, 75,00 €, ISBN 978-3-525-31140-0 (zugleich Hochschulschrift: Dissertation, Universität Oldenburg 2019)
Im Jahr 1845 war in London das German Hospital gegründet worden, explizit als eine Einrichtung von Deutschen für Deutsche. Im Laufe der Jahrzehnte wandelte sich die Einrichtung jedoch zu einem allgemeinen Krankenhaus, das bis 1987 in Betrieb war, und die Patientenschaft wurde zunehmend britischer. Für die Pflege der Patient:innen gab es vertragliche Kooperationen zwischen dem German Hospital (sowie später einigen protestantischen Gemeinden Londons) und der Diakonissenanstalt in Kaiserswerth in der Zeit von 1846 bis 1857, dem Darmstädter Diakonissenhaus von 1864 bis 1894 und der Diakonissenanstalt Sarepta in Bielefeld (ab 1894). Bereits wenige Monate nach der Eröffnung waren im April 1846 die ersten Kaiserswerther Krankenpflegediakonissen in London eingetroffen.
Die Diakonissen aus den deutschen Mutterhäusern in Kaiserswerth, Darmstadt und Bielefeld, die an das German Hospital sowie in einige deutsch-protestantische Gemeinden nach London entsandt worden waren, stehen im Mittelpunkt des hier anzuzeigenden Buches „Transnationale Möglichkeitsräume“ des Politikwissenschaftlers Dr. Michael Czolkoß-Hettwer, bei dem es sich um die stark gekürzte und überarbeitete Fassung seiner 2019 von der Fakultät für Human- und Gesellschaftswissenschaften der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg angenommen Dissertation handelt.
Wie der Autor, der als Fachreferent an der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen und im Vorstand des „Netzwerks Grüne Bibliothek“ (https://www.netzwerk-gruene-bibliothek.de/team/) arbeitet, einleitend schreibt, möchte er mit der Veröffentlichung, deren Drucklegung von der „Leibnitz-Gemeinschaft“ (https://www.leibniz-gemeinschaft.de) gefördert wurde, „insbesondere ein Beitrag zur transnationalen Erweiterung der historischen Diakonieforschung“ (S. 11) leisteten, die bis heute stark auf den nationalen Rahmen fokussiert ist. Zugleich sei die Arbeit „ein Beitrag zu einer feministischen Geschichtsschreibung. Und zwar dahingehend, dass nach Lebenswegen, Handlungsspielräumen und Erfahrungshorizonten von Frauen gefragt wird, die durch ihre (meist unterbürgerliche) soziale Herkunft, ihren Verzicht auf die, beziehungsweise ihren Ausschluss von der Ehefrau- und Mutterrolle und durch ihre Geschlechtszugehörigkeit in einem dreifachen Sinne als Subalterne betrachtet werden können“ (S. 12).
In seiner umfangreichen Studie betrachtet Michael Czolkoß-Hettwer insbesondere das Verhältnis zwischen dem restriktiven Diakonissenbild und den realen Handlungsspielräumen, die sich den Diakonissen in ihrer Arbeitswelt im Zuge der voranschreitenden Arbeitsteilung und der Technisierung des Arbeitsalltags in der Pflege, aber auch in Anbetracht des enormen Wachstums und der Bürokratisierung der Diakonissenanstalten eröffneten. Konkret fragt er danach, „wie die Schwestern mit der großen ethnischen sowie religiös-konfessionellen Heterogenität der Patientenschaft umgingen und wie sich ihre Zusammenarbeit mit Vorgesetzten, aber auch mit dem ihnen untergebenen Personal gestaltete“ (S. 12). Ebenso interessiert ihn die Frage, wie sich die Diakonissen in der Metropole London zurechtfanden, ob sich ihr Wahrnehmungs- und Aktionsradius signifikant über das Krankenhausgelände beziehungsweise die Gemeinden, in denen sie arbeiteten, hinaus erstreckte und ob die Diakonissen – auch in Bezug auf die herrschende Geschlechterideologie – „als Grenzgängerinnen“ aufgefasst werden können. Neben dem Spannungsverhältnis von Norm und Praxis sowie den transnationalen Dimensionen geht es dem Autor schließlich auch darum zu klären, inwieweit sich der religiös-missionarische Aspekt des Diakonissenlebens im Arbeitsalltag niederschlug und welche Konsequenzen dies beispielsweise für die Zusammenarbeit mit den Ärzten hatte. Schließlich nimmt er die konkreten biographischen Hintergründe der Diakonissen in den Blick und hinterfragt kritisch die „Setzung der Diakonissen als quasi-kollektive Akteurinnen“ (S. 13).
Der Untersuchungszeitraum ist klar definiert. Er beginnt mit der Gründungsphase des German Hospital in den frühen 1840er Jahren und endet in der Zeit des Ersten Weltkriegs (1914-1918), da es anschließend zu einer tiefgreifenden Neustrukturierung des Krankenhauses und zu einem Austausch nahezu der gesamten Schwesternschaft kam.
Bei seinen Ausführungen stützt Michael Czolkoß-Hettwer sich neben einer Vielzahl von Personalakten schwerpunktmäßig auf sogenannte „Ego-Dokumente“ – insbesondere handschriftliche Lebensläufe sowie Schwesternbriefe und Berichte, die zum Teil detailliert über die Arbeitsabläufe am Hospital und in den Gemeinden und über das Verhältnis zu den Patientinnen und Patienten, dem übrigen am Hospital tätigen Personal sowie den Geistlichen Auskunft geben – aus zahlreichen Archiven, darunter das Evangelische Zentralarchiv (EZA) in Berlin, das Zentralarchiv der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (ZEKHN) in Darmstadt, das Archiv der Fliedner-Kulturstiftung (AFKS) in Kaiserswerth und das Hauptarchiv der von Bodelschwinghschen Stiftungen (HAB) in Bielefeld.
Nach der Einleitung (S. 9-45) mit Hinweisen zum Forschungsstand, theoretischen und methodischen Überlegungen sowie Hinweisen auf die Quellen gliedert sich die Studie in sieben Kapitel, die ihrerseits zahlreiche Unterkapitel aufweisen. Im Kapitel 2 „Die weibliche Diakonie: Entwicklungen und transnationale Kontexte“ (S. 47-85) skizziert der Autor in groben Linien einige maßgebliche Zusammenhänge seiner Studie, darunter die Entwicklung der Krankenhäuser und der Krankenpflege in Deutschland und England sowie insbesondere die Entstehungszusammenhänge und Grundzüge der protestantischen weiblichen Diakonie. In diesem Zusammenhang beleuchtet er vor allem auch die Entwicklung der Diakonissenhäuser in Darmstadt und Bielefeld, die neben Kaiserswerth zu den drei Einrichtungen zählten, von denen Diakonissen nach London entsandt wurden.
Im 3. Kapitel „Die deutschen Diakonissen in London als Teil ihrer deutschen Mutterhausgemeinschaft“ (S. 87-139) schaut Michael Czolkoß-Hettwer detailliert auf die biographischen Hintergründe der Diakonissen, welche die Frauen zum Eintritt in ein Diakonissenhaus bewegten, um dann die Ausbildung in den jeweiligen Mutterhäusern vorzustellen.
In Kapitel 4 „Die Arbeitsfelder der Diakonissen im ethnisch-kulturellen Schmelztiegel Londons“ (S. 141-207) geht es vor dem Hintergrund der Stadtentwicklung um die Arbeitsfelder der nach London entsandten Diakonissen, ebenso wie um die Geschichte des German Hospital sowie der protestantischen Gemeinden, in denen ab dem frühen 20. Jahrhundert Gemeindediakonissen im Einsatz waren.
In Kapitel 5 „Im Netz relationaler Machtverhältnisse: Möglichkeitsräume im Arbeitsalltag“ (S. 209-309) analysiert der Autor schwerpunktmäßig Konstellationen und Ereignisse wie Binnenhierarchisierungen innerhalb der Schwesternschaft sowie der Umgang mit Diakonissen mit ihren Vorgesetzten und Mitarbeitenden.
In Kapitel 6 „Grenzräume als Möglichkeitsräume“ (S. 311-377) nimmt er die konkrete räumliche Mobilität der Diakonissen im Arbeitsalltag, in ihrer Freizeit und im Urlaub in den Blick und fragt danach, inwiefern die Diakonissen Kontakte und womöglich gar Freundschaften mit Angehörigen der englischen Gesellschaft knüpfen konnten und inwieweit eine Transzendierung geschlechtlich codierter Grenzen konstatiert werden kann.
Das 7. Kapitel „Allein auf Station: Der Erste Weltkrieg“ (S. 379-396) nutzt Michael Czolkoß-Hettwer, um einen kurzen Ausblick auf die Entwicklung während des Krieges zu werfen, in deren Verlauf viele der männlichen Vorgesetzten der Diakonissen aus London abgezogen oder von den britischen Behörden inhaftiert wurden.
Nach Kapitel 8 „Resümee“ (S. 397-403) enthält die Darstellung auch einen umfangreichen „Anhang“ (S. 405-458) mit einem Verzeichnis der Tabellen, Abbildungen, Abkürzungen und Siglen, Quellen und Literatur sowie – nicht zuletzt im Hinblick auf weitere Forschungen äußerst nützliche und hilfreiche – Ortsregister, Personenregister und Register der Diakonissen, Probeschwestern und (freien) Hilfsschwestern.
In der pflegehistorischen Geschichtsschreibung besteht kein Zweifel daran, dass protestantische Schwesternschaften für die Entwicklung der Pflege im 19. Jahrhundert prägend waren. Bemerkenswert dabei ist, dass sich den Diakonissen, wie Michael Czolkoß-Hettwer in seiner profunden Studie über „Deutsche Diakonissen in London (1846-1918“ zeigt, trotz aller Hierarchien und des starren normativen Korsetts der ordensähnlichen Anstalten die Möglichkeit bot, eine berufliche Qualifikation und ein gewisses Maß an Selbstständigkeit zu erlangen: „Je nach Zeitpunkt und konkreter Arbeitsstation eröffneten sich den Diakonissen Möglichkeitsräume, welche diese abhängig von ihrem biographischen Hintergrund und ihrer Persönlichkeit auf ganz unterschiedliche Art und Weise nutzen konnten“ (S. 398). Während Frauen bürgerlicher Herkunft hierbei deutlich eher in der Lage gewesen seien, leitende Positionen auf ihren Stationen zu bekleiden, habe für Frauen aus unterbürgerlichen Schichten hingegen bereits die Tätigkeit als einfache Diakonisse einen sozialen Statusgewinn dargestellt.
Im Verlauf seiner Untersuchung stellt der Autor, gestützt auf umfangreiche Quellenbestände diverser Archive aus dem In- und Ausland, ausführlich den Arbeitsalltag der aus Deutschland ins Ausland entsandten Krankenpflegerinnen vor, wobei er nicht nur die Mikro- mit der Makroperspektive verknüpft, sondern auch zwischen lokalen, regionalen, nationalen und globalen Bezügen wechselt. Wie er hierbei feststellen konnte, trugen die kulturellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in England, kombiniert mit der großen Distanz zu den deutschen Mutterhäusern sowie dem spezifischen, transnationalen beziehungsweise translokalen Setting der Londoner Arbeitsfelder „maßgeblich dazu bei, dass überdurchschnittlich viele der in London eingesetzten deutschen Diakonissen und Probeschwestern aus dem Dienst austraten oder entlassen wurden“ (S. 400). Unabhängig hiervon hätten die in England stationierten Diakonissen Möglichkeiten ergriffen, ihren Erfahrungshorizont über ihre Station hinaus auszudehnen um sich – zumindest partiell – in dem für sie fremden Land zu integrieren.
Da in der Krankenpflege und im Umfeld der weiblichen Diakonie in England (wie auch den USA) starke weibliche Führungsgestalten eher als in Deutschland akzeptiert waren, hätten die Gemeindediakonissen, die leitenden Stationsschwestern und insbesondere die Oberschwestern am German Hospital, so der Autor, eine besonders herausragende Stellung einnehmen können. Die etablierte Arbeitsteilung zwischen der leitenden Oberschwester (Matron), den ebenfalls mit Leitungsaufgaben betrauten Stationsschwestern und den übrigen Diakonissen und Probeschwestern habe dabei allem Anschein nach Florence Nightingale als Vorbild für ihre Reform der Krankenpflege gedient: „So ist davon auszugehen, dass das German Hospital einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Entwicklung der weltlichen Krankenpflege in England hatte“ (S. 401).
Insgesamt betrachtet gewährt Michael Czolkoß-Hettwer mit seiner Studie „Transnationale Möglichkeitsräume“ am Beispiel des German Hospital in London dezidierte Einblicke in den Arbeits- und Lebensalltag der ins Ausland entsandten Diakonissen-Krankenpflegerinnen. Die Untersuchung, die damit einen wichtigen Beitrag zur Diakonie- und Krankenpflegegeschichte leistet, verfügt über einen soliden Anmerkungsapparat mit fast 1.500 Anmerkungen. Während dabei gelegentlich manch noch so kleiner Punkt belegt ist, findet sich – völlig unverständlich – zu den erwähnten beziehungsweise zitierten, für die Pflegegeschichte bedeutenden Personen Adelheid Bandau (1847-1920), Friedrich von Bodelschwingh (1831-1910), Frances Helen von Bunsen (1826-1894), Julius Disselhoff (1827-1896), Lavinia Dock(1858-1957), Ruth Felgentreff (1924-2014), Caroline Fliedner (1811-1892), Friederike Fliedner (1800-1842), Theodor Fliedner (1800-1864), Elizabeth Fry (1780-1845), Sylvelyn Hähner-Rombach (1959-2019), Emilie Heuser (1822-1898), Florence Nightingale (1820-1910), Adelaide Nutting (1858-1948), Marianne von Rantzau (1811-1855), Theodor Schäfer(1846-1914), Amalie Sieveking (1794-1859) und Rudolf Virchow (1821-1902) kein einziger Hinweis auf die entsprechenden Einträge im mittlerweile zehn Bände umfassenden „Biographischen Lexikon zur Pflegegeschichte. Who was who in nursing history“ (1997-2022). Insbesondere ein genauerer Blick auf die Diakonisse Adelheid Bandau, aus deren autobiographischer Erzählung „Zwölf Jahre als Diakonissin“ (Berlin 1881) beziehungsweise (unter dem Titel der Neuausgabe) „Erfahrungen einer Diakonissin“ (Leipzig 1915) wiederholt an verschiedenen Stellen zitiert wird, hätte gezeigt, dass sie in den 1860er und 70ern nicht nur „eine Kaiserswerther Diakonisse“ (S. 115) wie viele andere war, indem sie ihr Werk zehn Jahre später aus dem Buchhandel wieder zurückzog, alle verfügbaren Exemplare aufkaufte und verbrannte sowie öffentlich ihr Bedauern darüber aussprach.[1] Darüber hinaus gab sie im selben Jahr in der Berliner „Kreuzzeitung“ eine öffentliche Erklärung ab, in der sie das Erscheinen ihres Buches aufs Tiefste bedauerte und ihr damaliges Verhalten verdammte. Bemerkenswert ist unterdessen jedoch, dass sie ihr Buch dann 1915 – mit dem Untertitel „Treu dem Leben erzählt“ – erneut publizierte und betonte, dass die darin wahrheitsgetreu die Diakonissenverhältnisse schildere, wie sie vor fünfzig Jahren in Kaiserswerth gewesen seien.
Eine Rezension von Dr. Hubert Kolling
[1] Vgl. Kolling, Hubert: Adelheid Louise Bandau. In: Horst-Peter Wolff (Hrsg.): Biographisches Lexikon zur Pflegegeschichte. „Who was who in nursing history“, Band 2. München, Jena 2001, S. 10-12; Kolling, Hubert: „Der Beruf und die ganze Diakonissensache sind mir auch jetzt noch lieb und werth und werden es stets bleiben.“ Die wechselvolle Lebensgeschichte der Diakonisse Adelheid Louise Bandau. In: Pflegegeschichte online, 3. Jg., Nr. 3, Juni 2001, Seite 1-21. Online unter: www.pflegegeschichte.de/Bandau.html [2001].