Rezension: Marie Simon

Autor/innen

  • Hubert Kolling Autor/in

Abstract

Thomas Klemp (Hrsg.): Marie Simon. Meine Erfahrungen auf dem Gebiete der Freiwilligen Krankenpflege im Deutsch-Französischen Kriege 1870-71. Briefe und Tagebuchblätter (Beiträge zur Rotkreuzgeschichte, Band 12). AVM – Akademische Verlagsgemeinschaft München. München 2024, 362 S., broschiert, 34,00 €, ISBN 978-3-95477-177-6

 

Sie war eine außergewöhnliche Frau ihrer Zeit, Marie Simon (1824-1877), die in zwei Kriegen unermüdlich verwundete und kranke Soldaten auf den Schlachtfeldern umsorgte und verpflegte. Als junge Frau brachte sie sich selbst pflegerische Kenntnisse bei, hospitierte im Diakonissenkrankenhaus in Dresden und in der Universitätsklinik in Leipzig, bevor sie nach ihrer zweiten Ehe 1853 mit ihrem Ehemann in Dresden ein Spitzen- und Weißwarengeschäft betrieb. Während des Preußisch-Österreichischen Krieges im Sommer 1866 suchte sie die Schlachtfelder in Böhmen auf; von Kronprinzessin Carola von Sachsen (1833-1907) wurde sie ins Direktorium des im September 1867 als Frauenverein des Roten Kreuzesin Dresden gegründeten Albert-Vereins berufen. Während ihrem Einsatz im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 schrieb sie Briefe und Tagebuchblätter, die sie 1872 unter der Überschrift „Meine Erfahrungen auf dem Gebiete der Freiwilligen Krankenpflege“ im renommierten Leipziger Verlag F.A. Brockhaus veröffentlichte.

Den 200. Geburtstag von Marie Simon im Jahr 2024 nahm das Sächsische Rote Kreuz zum Anlass für ein Gedenkjahr, um die vergessene Heldin der humanitären Hilfe posthum zu würdigen. In diesem Zusammenhang wurde ihr zu Ehren unter anderem im sächsischen Rot-Kreuz-Museum in Beierfeld eine Sonderausstellung mit dem Titel „Kriegsschwestern – Frauen im Krieg“ eröffnet, in ihrem Geburtsort Doberschau durch den Landesfrauenrat ein Denkmal eingeweiht und die Tagung „Krankenhauspflege in Kriegs- und Friedenszeiten aus historischer Perspektive“ der Sektion Historische Pflegeforschung der Deutschen Gesellschaft für Pflegewissenschaft e.V. (DGP) und des DRK-Landesverbands in Dresden veranstaltet. Darüber hinaus wurde in der im Auftrag des Deutschen Roten Kreuzes e.V. und der Stiftung Rotkreuz-Museum im Land Brandenburg von Petra Liebner, Rainer Schlösser, Volkmar Schön und Harald-Albert Swikherausgegebenen Schriftenreihe „Beiträge zur Rotkreuzgeschichte“, die damit zwölf Bände umfasst, ihr Buch „Meine Erfahrungen auf dem Gebiete der Freiwilligen Krankenpflege im Deutsch-Französischen Kriege 1870-71“ von 1872 neu aufgelegt.

Für die Herausgabe der aktuellen Veröffentlichung zeichnet sich Thomas Klemp (Jahrgang 1951) verantwortlich, der von 1984 bis 2018 als Jurist im Generalsekretariat des DRK und in den Landesverbänden Hessen und Sachsen tätig war. Zentrale Themen, mit denen er sich vor allem beschäftigt, sind das humanitäre Völkerrecht, die Grundsätze der Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung sowie die Geschichte des Roten Kreuzes.

Peter S. Kaul, Präsident des DRK-Landesverbands Sachsen, hat zu dem Buch ein Grußwort (S. 11-12) beigesteuert, in dem er die Arbeit und Verdienste von Marie Simon würdigt, die beharrlich dafür gekämpft habe, die Krankenpflege zu professionalisieren und als Beruf für Frauen zu etablieren. Seines Erachtens ist es „schlicht nicht zu verstehen, warum diese beeindruckende Gründungsmutter des Roten Kreuzes, die zu Lebzeiten in Sachsen und Deutschland überaus populär ist, im 20. Jahrhundert in Vergessenheit“ geriet. Im Hinblick auf die Bedeutung und Intention des vorliegenden Buches hält er sodann wörtlich fest: „Diese Edition ist eine überaus spannende und lehrreiche Lektüre. Rotkreuzschwestern wird einiges von dem, was Marie Simon an Konflikten und Hindernissen in der humanitären Hilfe beschreibt, bekannt vorkommen. Marie Simons erfrischend energischer Umgang damit macht Mut“ (S. 12).

Zur vorliegenden Edition, mit der „eine vergessene Vorkämpferin des Roten Kreuzes wieder in Erinnerung gebracht werden“ (S. 13) soll, hat der Herausgeber eine ausführliche Einleitung (S. 13-36) verfasst Darin stellt er in kurzen Abschnitten das Königreich Sachsen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor, beleuchtet die Entstehung des Roten Kreuzes im Sachsen sowie die Gründung des Albertvereins am 14. September 1867, und nimmt schließlich das Sanitätswesen und das Wirken der Albertinerinnen im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 in den Blick. Im Hinblick auf Marie Simon beziehungsweise die Entstehung ihres Buches bemerkt Thomas Klemp: „Beim Schreiben denkt sie nicht an eine spätere Veröffentlichung; ihre Schilderungen sind frisch und lebendig, ihre Wertungen stark und ohne diplomatische Rücksichtnahme. Sie schreibt selbstkritisch in der steten Sorge, nicht genug Kraft zu haben und zu versagen; immer wieder hat sie Zweifel, ob sie das Richtige tut“ (S. 27).

Über den Inhalt des Buches hält der Herausgeber sodann fest: „Im Vordergrund von Marie Simons Texten steht die Beschreibung der Mühsal des Einsatzes in Frankreich: unklare Aufträge, unfähige Vorgesetzte, Mangel an Hilfsgütern, Unterkünften und Transportmitteln, vor allem das schier erdrückende Leiden der Verwundeten und Kranken: zu Beginn des Feldzugs sommerlich brütende Hitze, tagelanger Regen und später Frost. Täglich muss improvisiert und organisiert werden: Pferdefuhrwerke und Eisenbahnen, Kochgeschirr und Lebensmittel, Räume für die Kranken und Verwundeten; das alles in einer feindseligen Umgebung, in der sie von der französischen Bevölkerung, die unter der deutschen Besatzung leidet, kaum Hilfe erwarten kann. Marie Simon erweist sich als zupackende, kluge und mutige Frau“. Wie Thomas Klemp weiter berichtet, setzte die geschulte Kauffrau in der Praxis klare Regeln für die Auswahl der Vorräte, die Lagerung und die Warenkontrolle. Viel Energie habe sie auch auf die Auswahl und die Anleitung des Personals verwenden müssen. Mit „nüchternem Improvisationstalent“ habe sie Hindernisse überwunden und für ein geordnetes Arbeitsumfeld gesorgt: „Unseriösen Helfern verbietet sie die Verwendung des Rotkreuzzeichens, nimmt ihnen die Armbinde ab und lässt sie nach Hause schicken“ (S. 28).

Angesichts ihres schier unermüdlichen Wirkens bilanziert der Herausgeber ernüchternd: „Zu Lebzeiten ist Marie Simon populär, hoch anerkannt und eine gefragte Ratgeberin. Im Laufe des 20. Jahrhunderts wird sie unsichtbar. In der Historiographie des Deutschen Roten Kreuzes, das ihr seine ersten Erfolge zu verdanken hat, wird sie gründlich vergessen“ (S. 33).

Im Anschluss an eine Zeittafel (S. 37-42) – sie reicht von 1824, dem Geburtsjahr von Marie Simon, bis zum Jahr 2022, in dem die Grabstelle von ihr auf dem Dresdner Trinitatisfriedhof restauriert wird und der DRK-Landesverband Sachsen sowie sächsische DRK-Kreisverbände damit beginnen, Sitzungsräume und Einrichtungen nach Marie Simon zu benennen – folgt der eindrucksvolle Originaltext der „Briefe und Tagebuchblätter von Marie Simon“ (S. 43-338), der hier in moderner Schrift und mit Anmerkungen sowie zeitgenössischen Illustrationen wiedergegeben wird. Ergänzend hierzu folgen „Zwölf Berichte von Zeitgenossen“ (S. 339-354), die wichtige Facetten ihres Wirkens beschreiben und eindrücklich verdeutlichen, welche Bedeutung Marie Simon zu ihrer Zeit hatte und welch hohes Ansehen sie einst genoss. Ergänzt wird die gelungene Darstellung durch ein „Personenregister“ (S. 355-30) und einen Abbildungsnachweis (S. 361-362).

Die Veröffentlichung ist sehr zu begrüßen, indem Marie Simon nicht nur als „vergessene Vorkämpferin des Roten Kreuzes wieder in Erinnerung gebracht“ wird, sondern das für die Geschichte der Kriegskrankenpflege wichtige zeithistorische Dokument nun für die wissenschaftliche Forschung wie für die breite Öffentlichkeit leicht zugänglich ist. Kann man nur hoffen, dass in derselben Reihe möglichst bald auch das von Marie Simon vorgelegte Krankenpflegelehrbuch „Die Krankenpflege, theoretische und praktische Anweisungen“ (Leipzig 1876) in Neuauflage herausgegeben wird.

Eine Rezension von Dr. Hubert Kolling

Veröffentlicht

2024-12-19

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